<geburtstag im freien fall>

stille kommt plötzlich. nimmt ihren raum erbarmungslos ein. wo eben noch laute menschen in deiner wohnung ihren freund feierten. fällt plötzlich die tür ins schloss und es ist vier uhr, und es bleiben dir die „12 etüden und 5 präludien von heitor villa-lobos“ und es bleibt dir der meditative abwasch, und es bleibt dir die gewissheit, dass du da bist. du bist tatsächlich da! so wie das leben über dich wegrauscht, so spuckt es hier und da gewissheit für dich aus - die gewissheit, dass dich wieder einmal deine freundin verlassen hat, wie sie es immer tut. du trägst die schuld für ihre müdigkeit - ihre unendliche müdigkeit, die du verschuldest! denn sie ist es, die dir immer hinterher laufen muss, immer muss sie hinter dir herlaufen mit deiner traurigkeit, obwohl du nie von ihr gehst. mein freund! ich sehe diese traurigkeit in deinen augen, die tiefer und tiefer in dich eindringt und besitz von dir nimmt. sie wird dich zerstören. niemand sonst kann das sehen. weil du mit niemandem darüber redest. wieso redest du mit niemandem darüber? wieso redest du nicht? es kann doch helfen, zu reden - einfach zu reden! so rede doch endlich, mein freund! du wirst das nicht tragen können - nicht du! so alleine wie du bist mit dir selbst. du stehst nachts auf dem balkon und schaust in die tiefe, die du noch nie ausstehen konntest. der leise schnee streicht dir den nacken. er lässt dich dein leben spüren. er lässt dich die sehnsucht spüren. die sehnsucht, die so tief in dir sitzt, und die ja doch niemand stillen kann. nicht deine freundin und auch nicht ich - nicht deine tote mutter.
wie du ihr bild noch immer in dir trägst, seit jahren - seit dem tag, an dem du abschied namst von ihr. als sie vor dir auf dem boden lag in dieser merkwürdigen eingeknickten haltung - noch nicht fertig zum sterben - in ihrer wohnung. die polizistin mit geschultem mitleid. aber doch war es ein schöner anblick. es war ein wunderbarer letzter anblick, wie sie da lag mit ihrer stille, mit ihrer unendlichen stille und güte, die sie schon immer hatte, mit ihrer traurigkeit, die niemand sah. mit ihrer traurigkeit, die sie dir gegeben hat, die euch verbindet für immer. und wie du nicht weinen konntest als du sie sahst. still deine mutter sahst, deine tote mutter zwischen den achthundert flaschen, die du gezählt hast, die achthundert flaschen zwischen denen sie lag in ihrem eigenen kot, den sie seit wochen überall in ihrer wohnung einfach verlor, weil sie nicht mehr konnte. weil die traurigkeit sie besiegt hatte, die traurigkeit, verlassen worden zu sein von ihrem eigenen sohn, den sie selbst verlassen hatte - schon dreißig jahre zuvor. schon dreißig jahre bevor sie in ihrem leid starb - allein und elendig. du hast sie verlassen! sie kann nichts für deine traurigkeiten und deine sehnsüchte. es war ihr schicksal, in dass sie sich und dich fügen musste. du hättest es nicht ändern können, weil das leben über dich wegrauscht. nur manchmal spuckt es hier und da gewissheit für dich aus - die gewissheit, dass deine mutter tot ist.
sie wird deine sehnsucht nicht stillen können, wenn du durch die straßen streifst - nachts durch die straßen streifst und niemanden sehen willst. wenn du wegrennst ohne ziel in die nacht hinein, weil du nicht schlafen kannst. weil du von deinem balkon nicht in die tiefe schauen magst - in die tiefe, die dich immer wieder in sich aufnehmen möchte, deinen schädel auf dem autodach zerbersten möchte. aber du willst nicht! du willst silberne nachtkiefernwälder an der havel durchschreiten und das knirschen des schnees bei jedem deiner schweren schritte am ufer der havel hören. du willst dich sonnen im gedanken an sommerwinde, die dein segel aufblähen, und dich über das wasser tragen - dich über das laue wasser gleiten lassen zu anderen ufern und dich wärmen. und das plätschern der wellen an deinem bug. du bist verrückt vor sehnsucht hier in dieser kälte am ufer der havel in mitten dieser silbrigen nacht, die ihren silbrigen glanz über dunkle kiefern schüttet. und da ist der leise schnee, der deinen nacken streicht und dich dein leben spüren lässt.
was bleibt, ist das lexikon merkwürdiger todesarten, das du von deinem freund heute zum geburtstag geschenkt bekamst, und es bleiben die päludien, die traurig, brasilianisch aus der gitarre rieseln gleich einem virtuosen wasserfall, so traurig, wie die tränen, die längst aus deinen augen fließen sollten, damit du endlich schlafen kannst. damit du endlich ruhe findest. mein freund! ich lasse dich nicht im stich. ich kenne dich. und ich kenne das leben, dass über dich hinwegrauscht. aber hier und da spuckt es gewissheit für dich aus.

<Montag, 26. Januar 2004, 21:56>, von <bubi> <comment> <>

 
<pappnase>, <Montag, 26. Januar 2004, 22:51>
<grossen dank>
das hat mich sehr beeindruckt...

<Link> <> <>


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